aus: Qi - Zeitschrift für Chinesische Medizin, 2023
Rezension von Udo Lorenzen, Heilpraktiker, Gastprofessor der Chengdu University of TCM, Medizinhistoriker M.A., Dipl. Sozialpädagoge
Buchrezension – Lehrbuch der klassischen Chinesischen Medizin und Akupunktur – Die Goldene Nadel
Autoren: Michael G. Hammes und Roya Schwarz
Urban & Fischer Verlag/Elsevier 2022, 630 Seiten, geb., Preis: 130,00 Euro
4 Jahre nach der „Goldenen Nadel“ erscheint ein Nachfolgewerk der beiden Autoren, welches für die Anhänger der altklassischen chinesischen Medizin (ACM) nichts zu wünschen übrig lässt. Die Verfasser gehen auch hier und viel detaillierter auf die altchinesische Tradition ein, welche das Wachstum und die Persönlichkeit der Therapeutin in den Mittelpunkt einer erfolgreichen Behandlung stellt. Nur wenn der Shen des Behandlers seine wahre Absicht erkennt, kann er mit dem Shen seiner Patientin interagieren und den Urgrund ihrer Erkrankung erkennen.
Die „Goldene Nadel“ ist eine Allegorie in der chinesischen Medizin, die einen überragenden Arzt (Shen Yi 神醫) beschreibt. Es geht hier um die Würdigung eines besonderen Arztes für seine außergewöhnlichen medizinischen und spirituellen Fähigkeiten. Der so ausgezeichnete Behandler ist ein Meister der Altchinesischen Medizin, in dessen Händen jede gesetzte Nadel eine wundersame Heilwirkung erzielt. So ist das Ziel der „Goldenen Nadel“, den Adepten zu wahrer Meisterschaft in der Akupunktur zu führen. Es liegt ein Geheimnis hinter dieser Heilkunst, die nicht jedem offenbart wird. Nur wenige streben sie an, die meisten geben sich mit einer symptomatischen Akupunktur zufrieden.
Diese Botschaft versuchen uns die beiden Verfasser des vorliegenden Buches zu vermitteln! In 25 Kapiteln werden grundlegende Aspekte für das Erlangen dieser wahren Heilkunst beschrieben. Es werden die Besonderheiten der Altchinesischen Medizin gegenüber der TCM deutlich gemacht, die nur durch die Einsicht in die natürlichen Abläufe zu verstehen sind – Das Dao 道 ist allgegenwärtig, man muss es nur erfassen! Die Kapitelüberschriften zeigen auch die Vernetzung der ACM mit der chinesischen Kultur an. Das Vorwort Tian Ming 天命 = „Ein himmlischer Auftrag“ erklärt, dass nicht nur der Kaiser, sondern auch ein wahrhaftiger Heiler seinen Auftrag direkt vom Himmel bekommt; Kapitel 2 heißt Zong Miao 宗廟 = „Der Tempel der Ahnen“ und zeigt in vortrefflicher Weise auf die Medizingeschichte, die auch in China viele weise Persönlichkeiten hervorgebracht hat. Kapitel 4 trägt als Überschrift Xuan Zhu 玄珠 = „Die schwarze Perle“ und weist auf die Bedeutung der Alchemie hin, die es schon zu Zeiten des Nei Jing gegeben hat und im Buch Zhuang Zi erwähnt wird. Auch dass ist eine Quelle des altchinesischen Denkens! Überhaupt wären alle Kapitelüberschriften es wert, sie ausführlicher zu behandeln.
Beim Durchblättern des Buches fallen viele farbige Abbildungen auf, welche den teils schwierigen Text auflockern. Diese Bilder sind in traditioneller Weise von zeitgenössischen Künstlern gezeichnet und geben dem ganzen Buch eine altchinesische Note. Die Autoren Hammes und Schwarz haben so mit viel Sorgfalt und Akribie auch für das Auge Sorge getragen.
Es gibt kaum einen Aspekt aus der chinesischen Medizin und Kultur, der nicht in diesem Buch vertreten ist. Aus einem naturphilosophischen Blickwinkel werden die zentralen Begriffe wie Yin und Yang, Dao, Qi, Jing, Shen und das eingebettet sein des Menschen zwischen Himmel und Erde dargestellt. Die wichtigsten historischen Gestalten werden porträtiert und ihre Schulen angerissen. Natürlich dürfen auch die 5 Wandlungsphasen und ihre Entsprechungslehre nicht fehlen, die im Buch die „5 Grundwesenheiten“ genannt werden. Dass hier ein umgangssprachlich geläufiger Begriff „Wandlungsphase“ mit „Grundwesenheit“ ersetzt und erklärt wird, erscheint mir eher unwesentlich zu sein, denn diejenigen LeserInnen, die sich ernsthaft mit diesem Buch beschäftigen (können), werden eh mit den Schriftzeichen arbeiten. Damit erscheint eine eindeutige Begriffsfestlegung unnötig. Die medizinische Bedeutung der Wu Xing 五行 ist dann im Folgenden sehr ausführlich herausgearbeitet und mit bestimmten Konstitutionstypen belegt.
Zu vielen Kapiteln werden Fallbeispiele genannt, welche die Art und Weise, wie die Autoren arbeiten, deutlich macht: Neben der schulmedizinischen Fallaufnahme erfolgt eine gründliche chinesische Betrachtung des Patienten mit diagnostischer Einschätzung und -erörterung und ein Behandlungsauftrag. Die Festlegung der zu behandelnden Akupunkturpunkte ist gemäß der alten Tradition nachvollziehbar und stimmig. Es werden hier vor allem die Wandlungsphasenbeziehungen der Punkte herausgestellt.
Die Zang Fu-Organe werden ebenfalls en detail beschrieben als Kernstück des kulturellen Vermächtnisses der Altchinesischen Medizin. Auch hier erscheint jedes „Organ“ als eine Allegorie für die verschiedensten Aufgaben im menschlichen Körper, die im Vergleich zur westlichen Medizin ganz anders arbeiten. Viele Zitate aus altchinesischen Klassikern werden herangeführt, viele (wunderschöne) Grafiken erfreuen das Auge.
Das gleiche gilt für das Leitbahnsystem, welches die Autoren „Die Wasserstraßen des Reiches“ nennen. Diese Metapher wurde gewählt in Anlehnung an den alten konfuzianischen Staatsapparat, in dem die Logistik der Güter über Wasserwege geschah und es Speicherbecken gab, in denen überschüssiges Wasser bei Überschwemmungen durch Regenfluten aufgefangen wurde. Dies ist auch die Erklärung der acht außergewöhnlichen Gefäße (Qi Jing Ba Mai 奇經八脈), welche im Anschluss sehr ausführlich und praxisrelevant dargestellt werden.
Es ist noch so viel mehr in diesem Buch, aber seine Auflistung würde den Rahmen einer Rezension sprengen. Insgesamt ist es mir eine große Freude gewesen, das Lehrbuch der klassischen Chinesischen Medizin und Akupunktur – Die Goldene Nadel zu lesen. Wie schon gesagt, die Bilder sind eine Augenweide und der Text ist äußerst dicht und gelehrt. Für jeden, der wirklich tief in die altchinesische Medizin eintauchen und nicht in der TCM haften bleiben möchte, kann dies Buch wertvolle Inpulse und Denkanstöße geben. Es steckt eine Menge Arbeit und Recherche in dem Buch, der Preis von 130,00 Euro ist demnach mehr als angemessen.
Das Lehrbuch der klassischen Chinesischen Akupunktur eröffnet dem Leser einen Einblick in eine höchst lebendige Kultur des Heilens und den Zugang zu einer Medizin, die mit wundersamer Wirkkraft (Shen Ling 神靈) ausgestattet ist. Ich wünsche den Autoren eine große Verbreitung ihres Buches, und dass ihre Ausarbeitungen in die „Szene der chinesischen Medizin (CM)“ eingehen und wertgeschätzt werden.
Udo Lorenzen, Kiel, 4. Juni 2023
Akademie für Altchinesische Medizin
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